Alain Berset: «Ich spüre heute in gewissen Kreisen einen Kriegsrausch»
Interview

Alain Berset: «Ich spüre heute in gewissen Kreisen einen Kriegsrausch»

Peter Klaunzer / Keystone

Der Bundespräsident verteidigt das Schweizer Verbot von Waffenlieferungen an die Ukraine. Mit Russland müsse man verhandeln: je früher, desto besser.

Andrea Kučera und Alan Cassidy 7 min
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Herr Bundespräsident, die Schweiz bleibt hart. Sie will den anderen Ländern die Wiederausfuhr von Schweizer Waffen in die Ukraine nicht ermöglichen. Können sich unsere Partner noch auf uns verlassen?

Alain Berset: Was heisst hier hart bleiben? Wir halten uns schlicht an die geltenden Gesetze. Und die lassen es nicht zu, dass wir Gesuche zur Weitergabe von Waffen bewilligen. Und natürlich sind wir verlässlich. Ich hatte in den letzten zwei Monaten viele ­Kontakte mit Staatsoberhäuptern und Premiers unterschiedlichster Länder. Wenn die Wiederausfuhr Thema war, war es eine gute Gelegenheit, unsere Position zu erklären. Diese wird in der Regel gut verstanden.

Wir erleben das anders. Im Interview mit der «NZZ am Sonntag» sagten es die niederländische Botschafterin und der französische Botschafter sehr deutlich: Europa erwarte, dass die Schweiz Waffenlieferungen in die Ukraine ermöglicht.

Ich verstehe und respektiere, dass andere Länder eine andere Haltung haben. Aber die Schweizer Position muss ebenfalls respektiert werden. Und ich glaube auch, dass wir verstanden werden, wenn wir erklären, wie unsere Position zustande kommt. Sie beruht auf unserem Engagement für den Frieden, für das humanitäre Recht, wo möglich für Mediationen. Wir sind Sitzstaat der Genfer Konvention, des IKRK, der Uno. Und diese besondere Rolle der Schweiz widerspiegelt sich in unseren Gesetzen, auch was die Ausfuhr von Waffen betrifft.

Sie verweisen auf Ihre Kontakte in den vergangenen Monaten. Unser Eindruck bleibt trotzdem: Der Ton verschärft sich. Selbst der deutsche Energieminister Robert Habeck sagt, es wäre gerecht und hilfreich, wenn die Schweiz die Weitergabe von Waffen ermöglichen würde.

Es fällt auf, dass das deutsche Gesuch um Wiederausfuhr just dann an die Schweiz gerichtet wurde, als die Diskussion innerhalb Deutschlands in Bezug auf die Weitergabe von eigenen Waffen feststeckte.

Alain Berset

Alain Berset, 50, wurde 2012 für die SP in den Bundesrat gewählt und ist ­damit das amtsälteste Mitglied der Landesregierung. Er ist Vorsteher des Innendepartements und dort für das Gesundheitswesen und die Altersvorsorge zuständig. Dieses Jahr ist der Freiburger zum ­zweiten Mal nach 2018 Bundespräsident.
Alain Berset, 50, wurde 2012 für die SP in den Bundesrat gewählt und ist ­damit das amtsälteste Mitglied der Landesregierung. Er ist Vorsteher des Innendepartements und dort für das Gesundheitswesen und die Altersvorsorge zuständig. Dieses Jahr ist der Freiburger zum ­zweiten Mal nach 2018 Bundespräsident.

Und was sagen Sie dazu, dass der französische Botschafter findet, die Schweiz behindere mit ihrer Haltung die Selbstverteidigung Europas?

Ich habe Mühe, wenn man so weit geht. Zu behaupten, die Selbstverteidigung Europas hänge von der Wiederausfuhr von Waffen aus der Schweiz ab, und zu verlangen, dass wir unser geltendes Recht missachten, dünkt mich nicht angemessen. Gerade weil wir neutral sind und keine Weitergabe von Waffen in Kriegsgebiete erlauben, können wir sehr viel leisten für diesen Kontinent. Wir haben diese Position ja nicht einfach so erfunden, weil wir das noch schön finden.

Sondern?

Das aktuelle Kriegsmaterialgesetz ist das Resultat eines langen Prozesses. Man merkte in der Vergangenheit, dass manchmal Schweizer Waffen in Kriegsgebieten auftauchten. Jetzt einfach zu sagen, die Situation sei eine andere, die Schweiz müsse jetzt ohne Rücksicht auf die Gesetzesgrundlage alles ändern, das geht nicht. Das kann man nicht von der Schweiz erwarten.

Und wenn man die Gesetze ändern würde, wie das derzeit verschiedene Vorstösse im Parlament verlangen?

Die Position des Bundesrates ist klar. Sie entspricht auch meiner persönlichen Haltung: Schweizer Waffen dürfen nicht in Kriegen zum Einsatz kommen. Ich erinnere an die grosse Debatte, die wir zwischen 2017 und 2019 zu diesen Fragen geführt haben. Jetzt ist Stabilität gefragt. Die neuerliche, emotionale Debatte im Parlament verfolge ich mit Interesse. Ich stelle einfach fest, dass die Haltung des Bundesrats bis jetzt vom Parlament gestützt wird. Das zeigen auch die Abstimmungen von dieser Woche.

Der 24. Februar 2022 ist eine Zeitenwende. Wir haben den Eindruck: In der Schweiz haben viele die Tragweite des russischen Einmarsches in die Ukraine noch nicht ganz erfasst – auch der Bundesrat nicht.

Der 24. Februar 2022 war eine Zäsur. Das ist unbestritten. Und wenn wir ehrlich sind, wurden wir alle überrascht von der Heftigkeit des Angriffs Russlands auf die Ukraine. Der Angriff verursacht grosses Leid, die kulturellen und wirtschaftlichen Schäden sind immens. Doch es wäre naiv, zu denken, dass alles in dieser Nacht begann. Der Krieg hat schon mit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 angefangen. Nur wollten damals viele nicht sehen, was diese Annexion bedeutet.

Was wollen Sie damit sagen?

Dass es falsch ist, zu denken, zuvor habe dreissig Jahre lang Stabilität geherrscht in Europa. Nach dem Mauerfall von 1989 dachten viele, es sei eine neue Welt entstanden, es herrsche Frieden, Liberalismus, wirtschaftliche Prosperität. Das hat sich als Illusion erwiesen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat uns brutal daran erinnert, dass es diese Stabilität so nie gegeben hat. Der 24. Februar 2022 war ein Schock, aber die Probleme haben sich schon vorher abgezeichnet. Es war ein schleichender Prozess.

Sie relativieren die Bedeutung des Kriegs.

Auf keinen Fall. Es ist ein brutaler Angriff von Russland auf die Ukraine und eine massive Missachtung des Völkerrechts. Und die Reaktion der Schweiz war mit der raschen Übernahme der Sanktionen sehr stark. Ich sage nur, dass sich nicht alles erst an diesem einen Tag geändert hat.

Sie haben gegenüber «Le Temps» gesagt, Sie seien besorgt über den derzeit vorherrschenden «Kriegsrausch», auch bei ehemaligen Pazifisten. Ist das eine Kritik an Ihrer Partei, der SP, die sich neuerdings für die Weitergabe von Waffen an die Ukraine ausspricht?

Nein, es war eine Reaktion auf das, was ich in vielen Ländern beobachte. Das aktuelle Klima erinnert an das Klima zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Es herrschte damals die Meinung vor, es gebe so viele Spannungen und Frustrationen, dass sich dies nur in einem Krieg entladen könne – und viele Leute waren von dieser Vorstellung begeistert.

Und Sie sehen Parallelen zu heute?

Ich spüre auch heute diesen Kriegsrausch in gewissen Kreisen. Und darüber bin ich sehr besorgt. Denn dieses Gefühl beruht auf einer kurzfristigen Sicht. Dabei muss man immer langfristig denken: Was wollen wir für eine gemeinsame Zukunft auf diesem Kontinent? Damit meine ich nicht, dass es keine starke und klare Reaktion braucht auf einen Angriff. Aber sie muss rational sein und die langfristigen Ziele im Auge behalten.

Das klingt ein wenig so, als sollten wir uns in der Schweiz einfach so verhalten, als ginge uns der Krieg nichts an.

Keinesfalls. Neutralität heisst nicht Gleichgültigkeit. Die Schweiz engagiert sich stark und hat sehr rasch Sanktionen übernommen, die in dieser Form präzedenzlos sind. Dazu kommen die Bemühungen in der Ukraine selbst, etwa, was die Entminung betrifft. Aber ich bin nicht naiv. Es gibt keinen einfachen Ausweg aus dieser Situation. Aber wir werden alle einen finden müssen.

Durch Verhandlungen mit Russland?

Es wird dereinst Verhandlungen mit Russland geben müssen. Je früher, desto besser. Der Pazifismus hat momentan einen schlechten Ruf. Aber was die Schweiz betrifft, ist Kriegsführung nicht Teil der DNA. Wir versuchen, überall dort präsent zu sein, wo wir einen Beitrag zu Mediation und Frieden leisten können. Das rufe ich meinen Gesprächspartnern im Ausland immer in Erinnerung.

Auch die Neutralität gehört für viele zur DNA der Schweiz. Aber sie war in der Geschichte immer nur ein Mittel zum Zweck. Wann kommt der Punkt, an dem die Neutralität den Interessen des Landes eher schadet als nützt?

Die Neutralität ist schon seit langer Zeit Teil unserer Aussenpolitik. Sie war es auch dann, als sich die Welt um uns veränderte, zum Teil sehr rasch. Und natürlich muss sich die Neutralität anpassen. Wer hätte noch vor wenigen Jahren vorausgesagt, dass wir dereinst so weitgehende Sanktionen übernehmen würden wie nun im Ukraine-Krieg? Aber die Neutralität muss einen harten Kern bewahren! Das ist unsere Verpflichtung gegenüber dem Rest der Welt.

Das ist der Schweizer Sonderfall, den Sie da beschwören.

Unsere Neutralität ist nicht einfach eine Phrase. Es geht darum, wofür sie steht: das Bekenntnis zum humanitären Recht und zu den Menschenrechten, den Schutz der Zivilbevölkerung, den Schutz der Genfer Konventionen. Das klingt für manche vielleicht passé. Aber es ist jetzt wichtiger denn je. Es wäre extrem gefährlich, diese fundamentalen Prinzipien nun über Bord zu werfen.

Aber das verlangt ja gar niemand.

Darauf läuft es aber hinaus, wenn wir uns nun von kurzfristigen Überlegungen und aufgrund der täglichen Nachrichtenlage zu Entscheidungen hinreissen lassen, deren Konsequenzen wir nicht abschätzen können. Wir müssen uns fragen, wo wir als Land, wo Europa in fünf, zehn, dreissig Jahren steht. Alles, was wir heute beschliessen, muss sich daran messen. Und im Fokus muss die Frage stehen: Was können wir tun, um die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu schützen?

Welche Rolle spielt bei Ihrer Sicht auf die Neutralität Ihre Herkunft als Westschweizer? Befürchten Sie, dass eine klar positionierte Schweiz den internationalen Standort Genf untergraben würde?

Das hat nichts mit meiner Herkunft zu tun. Aber manchmal habe ich schon den Eindruck, dass wir uns in der Schweiz der zentralen Bedeutung von Genf zu wenig bewusst sind. Wenn wir nicht mehr neutral sind, leiden darunter aber nicht die internationalen Organisationen. Sondern zuallererst die Schweiz, die der Neutralität viel verdankt. Wir brauchen nicht ins Mittelalter zurückzugehen, um das zu verstehen. Und nun ist da bei einigen plötzlich keine Linie mehr. Das finde ich erstaunlich.

Warum?

Man kann nicht messen, wie ein Land in den ruhigen, schönen Zeiten funktioniert. Ich hatte ja immer eine Leidenschaft für verschiedene Verkehrsmittel, etwa das Segeln. Und ich weiss deshalb: Ein Sturm kann ganz plötzlich aufziehen. Aber wenn er da ist, muss man Ruhe bewahren. Übersetzt auf die Politik: Gerade in stürmischen Momenten müssen wir uns auf unsere Fundamente besinnen.

Sie waren Anfang Woche erstmals im Uno-Sicherheitsrat und sprachen dort lange über die wichtige Rolle der Frauen bei derSchaffung von Frieden. Wie passt das zusammen mit der nach wie vor freundlichen Haltung der Schweiz gegenüber Iran, das brutalgegen die von Frauen geprägte Protestbewegung vorgeht?

Wir verurteilen die Menschenrechtsverletzungen gegen die Protestierenden scharf und haben das den iranischen Behörden auch deutlich mitgeteilt. Ich selbst habe einen entsprechenden Brief unterzeichnet mit der Aufforderung, das Vorgehen gegenüber den Protestierenden sofort zu stoppen.

Gleichzeitig haben Sie kürzlich namens der Schweiz den Mullahs in einem Telegramm zum 44. Jahrestag ihres Regimes gratuliert. Warum?

Es entspricht den diplomatischen Gepflogenheiten, anderen Staaten zu Nationalfeiertagen und ähnlichen Anlässen zu gratulieren. Und das Telegramm hat auch kritisch Bezug auf die Menschenrechtssituation in Iran genommen.

Sie verstehen aber, dass das Signal seltsam ist?

Unsere Haltung zu den Vorgängen in Iran ist unmissverständlich. Aber zum Wesen der Diplomatie gehört, mit allen im Austausch zu bleiben. Nur so können wir unsere Interessen und unsere Kritik auch geltend machen.

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