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Das Problem mit den andern

Warum nerven die andern so, wo wir doch auf Zusammenarbeit statt Konfrontation angewiesen wären? Wie wäre es, wenn die andern mit den andern Andern an einen Tisch sässen und sich gemeinsam Gedanken zur Lösung der grossen Probleme machten?

Thomas Hermann 4 min
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Thomas Hermann: «Die Beschäftigung mit andern, die punkto Ethnizität, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung von einer mehrheitsfähigen Norm abweichen, provoziert häufig unqualifizierte Polemik.»

Thomas Hermann: «Die Beschäftigung mit andern, die punkto Ethnizität, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung von einer mehrheitsfähigen Norm abweichen, provoziert häufig unqualifizierte Polemik.»

Daniel Karmann / DPA

In unseren täglichen Begegnungen mit andern tauchen wir immer wieder in die «barocke Hölle menschlicher Beziehungen» ab, wie es Paul Watzlawick in seiner «Anleitung zum Unglücklichsein» (1983) formuliert hat. Hand aufs Herz: Wer von uns wähnte sich nicht schon auf einer Höllenfahrt, sei es in der Partnerschaft, der Familie, in der Schule, bei der Arbeit oder beim Verfolgen der Nachrichten in den Medien?

In unserem Streben nach Unglück ist uns jeder Fauxpas der andern recht, um uns zu ärgern. Allein die Tatsache, dass die andern anders sind, kann uns auf die Palme treiben. Dabei kreuzen sich unsere Blicke auf die andern mit denjenigen der andern auf uns, was die Sache nicht einfacher macht, wie der folgende literarische Exkurs zeigt.

Thomas Hermann

Thomas Hermann

pd

Die andern und wir bei Sartre und Eliot

«Die Hölle», so der Schlüsselsatz in Sartres Einakter «Geschlossene Gesellschaft» (1944), «das sind die andern.» Drei Tote stecken in einem überhitzten Hotelzimmer, der Hölle, fest. Sie foltern einander schonungslos mit ihren Blicken und Worten und hassen sich, weil sie von den andern durchschaut werden. Was für die drei Figuren im Theaterstück gilt, trifft gemäss Sartre nicht generell auf uns Menschen zu. Vielmehr komme es auf unser Verhältnis zu den andern an, ob diese für uns zur Hölle werden oder nicht. Häufig sind wir selbst das Problem mit unseren verkrusteten Gewohnheiten und festgefahrenen Selbstbildern, die im Blick der andern schmerzhaft gespiegelt werden. Als lebende Tote, so Sartre, seien wir in einem Teufelskreis gefangen, aus dem wir nur schwer ausbrächen, obschon wir die existenzielle Freiheit hätten, genau dies zu tun.

Im eigenen Ich gefangen ist auch die Hauptfigur in T. S. Eliots Beziehungsdrama «Die Cocktail-Party» (1949), nur wenige Jahre nach Sartres «Geschlossener Gesellschaft» uraufgeführt. Eliot legt seinem Protagonisten die Umkehrung von Sartres Diktum in den Mund: «Was ist die Hölle? Die Hölle ist man selbst.» Um nicht ewig darin zu schmoren, lohnt sich ein ressourcenorientierter Blick auf das Thema.

Die Anderen und das Andere in der Pädagogik

Unser Verhältnis zu uns selbst, zu andern Menschen und zur Welt, das sind Themen, mit denen sich die Erziehungswissenschaft theoretisch und empirisch befasst und mit denen sich Lehrpersonen in ihrer Schulpraxis tagtäglich auseinandersetzen. Unterschieden wird einerseits zwischen der Beziehung zu «den Anderen», zum Beispiel dem Verhältnis einer Lehrerin zu ihren Schülern oder demjenigen der Lernenden untereinander. Anderseits geht es in schulischen Lehr- und Lernprozessen um «das Andere», also um den Stoff in den verschiedenen Fächern, um die Dinge und Phänomene, kurz um Weltaneignung.

Lauter Probleme

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Das Verhältnis dieser beiden Lernfelder, der personalen und sozialen Kompetenzen und der inhaltlich-fachlichen Kompetenzen, wird mit jedem Lehrplan neu ausgehandelt. Im aktuellen Lehrplan 21 sind personale Kompetenzen wie Selbsteinschätzung, Umgang mit Herausforderungen oder Vertreten eigener Standpunkte als überfachliche Kompetenzen im Grundlagenteil angesiedelt. Dort finden sich auch die sozialen Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Konfliktbewältigung oder Umgang mit Vielfalt. Diese werden überall im schulischen Miteinander geübt und gelebt. Speziell thematisiert werden sie in Fachbereichen wie «Natur, Mensch, Gesellschaft» oder in der Medienbildung, etwa wenn es um ethische oder rechtliche Aspekte bei der Nutzung von sozialen Netzwerken geht.

Angebote, die zu einer verantwortungsvollen Mediennutzung beitragen, sind kaum umstritten. Wie andere überfachliche Kompetenzen werden sie nicht nur in der Schule, sondern auch im Elternhaus erworben. Nehmen Schulleitungen und Lehrpersonen hingegen ihren Auftrag ernst und steigen mit ihren Klassen ins Thema Diversität ein, regt sich häufig Widerstand. Die Beschäftigung mit andern, die punkto Ethnizität, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung von einer mehrheitsfähigen Norm abweichen, provoziert häufig unqualifizierte Polemik.

Denken wir nur an den nationalen Shitstorm rund um den Gender-Tag der Sekundarschule Stäfa vom Mai dieses Jahres, der aufgrund massiver Drohungen abgesagt wurde. Doch die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt. Dass sich der Gemeindepräsident von Stäfa, Christian Haltner, aus sachlichen Gründen vollumfänglich hinter seine Sekundarschule stellte, ist ein Lichtblick. Als Oberst im Generalstab und FDP-Politiker entspricht er nicht dem Prototyp des gendersensiblen Politikers. Als ehemaliger CS-Banker gehört er zudem mit den Klimaklebern und der Genderdebatte zu den grössten Ärgernissen der Schweiz, wie das SRG-Wahlbarometer kürzlich herausgefunden hat.

Finanzwirtschaft, Klimaaktivismus und Wokeness also vereint in einer statistischen Schicksalsgemeinschaft von Geächteten. Wie wäre es, wenn die drei Gruppen gemeinsam mit andern Andern an einen Tisch sässen und sich Gedanken zur Lösung der grossen Probleme wie Klima, Chancengleichheit oder Frieden machten? Sie haben gemäss Sartre die Freiheit, das zu tun – oder es bleiben zu lassen und sich das Leben zur Hölle zu machen.

Thomas Hermann ist Rektor a. i. der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen. Er ist Anglist und Medienpädagoge und Mitautor des Lehrmittels «Apropos Medien» (Klett & Balmer, 2023) sowie Autor von «Überwachungsbilder».

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